Unvertretbar

Zu später Stunde, nach Einnahme enthemmender Flüssigkeiten in ausreichender Menge, offenbart die befreundete Berufskollegin, warum sie sich niemals krank meldet: Dann müsste sie ja jemand vertreten. Und diese Vertretung sähe dann, wie die Kollegin arbeitet. Ihre Überlebenschancen, sagt die Kollegin, sind größer, wenn sie sich krank ins Büro schleppt, als wenn irgendjemand sieht, wie sie arbeitet.

Diese befreundete Kollegin arbeitet nämlich angestellt, aber sehr selbstständig, und die Freiheit, ihre Arbeit nach ihrem Gutdünken organisieren zu können, genießt sie in vollen Zügen. Also, normalerweise, wenn sie nicht krank ist und fürchten muss, dass jemand versucht, durch ihr System, äh, Chaos durchzusteigen. Denn sie hat nicht alles vorbildlich dokumentiert. Ihre Ordner und ihre Ablage ähneln einem Korallenriff: Im Laufe des Lebens und der Gezeiten gewachsen, bunt, vielfältig, und irgendwie schön – aber wer etwas Bestimmtes sucht, muss tief und lange tauchen. Ihr Suchsystem funktioniert nach der Erinnerung: Neulich gemailt, da muss die Adresse irgendwo im Postfach zu finden sein… Kurz, wer hier Vertretung macht, muss erstmal einen Monat aufräumen. (Das übrigens tut die Kollegin einmal im Jahr selbst, nämlich, wenn sie ihre urlaubsbedingte Abwesenheit vorbereitet. Hinterher ist sie einen weiteren Monat mit Suchen beschäftigt, weil sie sich nicht erinnert, nach welchem System sie aufgeräumt hatte.)

So weit, so typisch – genau die gleiche Geschichte hatte ich kurz vorher von einem Freund gehört, der als Projektleiter arbeitet und niemals krank werden kann, weil er sich für so unordentlich hält.

Was schlussfolgern wir: Viele der vermeintlichen Helden, die sich mit Fieber an den Schreibtisch schleppen, sind in Wahrheit verschämte kleine Wurschtler mit genau den gleichen menschlichen Schwächen und Sorgen wie wir. Tröstlich. Aber auch tragisch, dass keiner das vom anderen weiß und sich deshalb jeder für einzigartig hält in seiner Fehlbarkeit.

Vielleicht sollten wir Vertretungsclubs gründen: Einen Tag im Jahr vertreten wir uns gegenseitig, damit wir alle merken, dass die anderen auch mit Provisorien arbeiten und wir keineswegs die einzigen sind, die hier etwas mogeln und da mal schummeln… Aber dann würden wir wahrscheinlich alle vorher wochenlang aufräumen, um uns nicht vor der Vertretung zu blamieren, und gegenseitig wären wir dann dermaßen von der vorgefundenen Ordnung am Arbeitsplatz des Kollegen beeindruckt, dass wir uns anschließend noch viel schämen würden…

Autorin: Gudrun Sonnenberg | Themen: Alltag,Kollegen,Selbstmanagement

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